Der Schrei der Pastelle

Sonnenfeld, 1996, Pastell auf Holzdruck, 66 x 95 cm
Sonnenfeld, 1996, Pastell auf Holzdruck, 66 x 95 cm

Wendekapitel in DDR-Biographien, so sie nicht den alten Zöpfen anhängen oder schon wieder neuverordnete Geschichtsbilder bedienen, haben oftmals diese umwerfenden kathartischen Momente. Wie in einem selbst die Grenze aufging. Entfesselung, Euphorie, Sprung ins Offene! … Besonders gut aufgehoben ist dieser Vorgang, wo er künstlerische Gestalt gewann.
Ute Meinhardt, aus der Leipziger Schule hervorgegangen, brach damals schier von einem Tag auf den anderen mit dem „Erbe“ in all seinen Verläßlichkeiten: Der Wechsel vom gestandenen Ölbild zur Pastellkreide (mit dem Ruch des Flüchtigen, Marginalen) war radikaler kaum denkbar. Zumal hier nicht das hauchzarte Tutu Degas'scher Ballettmädchen ins Visier rückte, sondern die Schreikraft des reinen, ungebundenen Pigments, dem Meinhardt Form und Fläche überließ. Es zu ausreichender Dichte und Haftung ins Papier zu reiben führte zum Exzeß, bis an körperliche Grenzen. Mit dieser neuen Technik gelangte die Künstlerin in kürzester Zeit zu originärem, überzeugendem Ausdruck.
Figur und Porträt kehrte sie dabei vorläufig den Rücken, der Blick ging auf Stadträume, Landschaften ungekannter Art. Zu reisen war ja sowieso das Gebot der Stunde: Italien, Israel, Westküste USA, Litauen. Kolossale Weiten, nie gesehenes Licht. Das Angestaunte evozierte jedoch keine illusionistische Nachbildung, floß in ein immer freieres Spiel loser, klar konturierter Flächen, Farbformen (Kandinsky) – bei denen man „keine Angst haben muß, daß sie runterfallen“ (Meinhardt). Perspektive ist vordergründig aufgegeben, läßt sich jedoch unschwer imaginieren, assoziieren; manches kann man gegenständlich sehen, anderes hebt diese Sicht wieder auf; spannendes Spiel aus In- und Exklusionen. (Sonnenfeld: ein Saum Zypressen am See im Abendlicht oder eine Batterie blutiger Messer, ins Fleisch gerammt bis ans Heft? Behausung: Jerusalem, ineinanderverschachtelt zum Hinterhof dreier Religionen, aus­einandergetrieben zum Nomadenzeltlager im Wüstenwind? – usw.) Auch die Linie hat Teil am ambivalenten Spiel, schafft Kontur und geht eigene, autarke Wege, so wie die monochrome Fläche hie und da durch gezielte Übermalung, Überschichtung Textur gewinnt.
Per Abstraktion zu neuer Raumerfahrung, zu geistiger und sinnlicher Vertiefung – diesen Weg sind viele Große vor ihr gegangen. Ute Meinhardts Pastellbilder der Neunziger rufen Matisse und seine Fauves in den Zehnern wach (Gefühle abbilden statt Gegenstände! Sehen um zu sehen, nicht um wiederzuerkennen!), den Picasso der späten Zwanziger und Nicolas de Staël in den Fünfzigern, der schon wieder fast vergessen ist. Und was ihre zwei so gegensätzlichen Lehrer angeht: Von Bernhard Heisig und Dietrich Burger schien ersterer einmal der prägende gewesen zu sein, scheint von letzterem heute mehr aufgehoben. Nicht nur weil Meinhardts Bilder keine Botschaften vor sich hertragen, die Künstlerin als Person eher außen vor bleibt („meine Bilder sind präsenter als ich!“); es ist die Art, wie eine – freilich ganz andere – emanzipierte Farbigkeit „die Dinge überspielt“, auf „Dahinterliegendes“ verweist (Michael Freitag über Burger).
Der Schub von einst wirkt nach bis heute, jedoch in vielfältigen Brechungen. Gereist wird schon länger nicht mehr: memory full! Die Künstlerin schöpft, geduldig bis zur Besessenheit, aus Vorräten – wofür ein exzellentes Bild- und Situationsgedächtnis die Voraussetzung ist; auch das Dachatelier am Nikischplatz ist zum Speicher und Schauraum für den beständigen Rückgriff funktionalisiert. Zu Hunderten liegen Photos (die nunmehr bevorzugte Art des Naturstudiums anstelle der Zeichnung; Fernsehen oder ein Zeitungsschnipsel aus der Mülltonne tun es aber auch), strahlenförmig zur Staffelei hin ausgerichtet, auf dem Fußboden in mehreren „thematischen“ Lagen übereinander, zwischen transparenten Planen, jederzeit abrufbar, dazu zahllose Entwürfe an den Wänden; stillgelegte Anfänge und offene Enden zuhauf.  
Weil längst auch die vormals abgelegten Techniken und Genres wiederaufgenommen sind, ergeben sich immer neue „Crossovers“. In jüngster Zeit zum Beispiel kleine Porträtzeichnungen in buntem Pastell, an die späten Kinderporträts von Dix oder Malewitschs suprematistische Bäuerinnen erinnernd; reduziert, kulleräugig oder bedeutungsvoll augenlos, mit dem verschärften Blick fürs „innere Schema“, der Betrachter ist der Sehende. Derweil das, was gemeinhin als Pastelltöne firmiert, unversehens in Öl auf Papier findet: Connewitzer Vorstadtstraßen im frischen Schnee, Grau- und Ockerskalen, „Putz in Putz“, Brandmauerngeklipp in wie flüssigem Licht, festgehalten mit schnellen, sicheren Strichen, bevor der Schnee getaut und das Papier zerweicht ist …
Faszinierend und gelinde beängstigend für den Außenstehenden diese anhaltende Rotation, Verflechtung, Verdichtung, spiralige Durchdringung von Themen und Techniken auf vermeintlich engem Raum, mit langen gedanklichen Vorläufen hin zu größter Anspannung und plötzlicher Entladung: „Denken einstellen. Malen und malen lassen.“ Ein Schmoren im eigenen Saft (das versierten Köchen ja noch nie verdächtig war) scheint zum Arbeitsstil entwickelt. Mit Suchbewegungen, so weitgreifend-spielerisch und doch organisch „zielführend“, wie man sie an Hopfenranken erst im Zeitraffer erfassen und bewundern kann …
Die nächste Ernte ist gewiß. Ungewiß der Zeitpunkt der nächsten größeren Eruption. Und wollte man dafür eine neue Synchronizität der Ereignisse beschwören: Es sind ja noch genug Mauern in der Welt, die es ein- und abzureißen gilt.

Andreas Tretner 2010